Vom funktionalen Objekt zum Statussymbol
Strukturwandel in Chinas Uhrenmarkt

Im laufenden Jahr wird die seit einiger Zeit im Gang befindliche Öffnung des chinesischen Uhrenmarkts für Einfuhren weiter vorangetrieben werden. Das Reich der Mitte bietet mit seiner rasch wachsenden Mittelschicht ein riesiges Marktpotenzial für Armbanduhren in mittleren und höheren Preissegmenten.




us. Peking, im März

In der Welt geht derzeit eine neue Version der Furcht vor der «gelben Gefahr» um. Die Menschen in den westlichen Industriestaaten befürchten, dass ein aufstrebendes China als Werkstätte der Welt ihre Jobs gefährdet und praktisch kein Arbeitsplatz mehr vor einem Transfer ins Reich der Mitte sicher ist. Wie immer bei wirtschaftlichen Veränderungsprozessen ist die Wirklichkeit sehr komplex. Es gibt Gewinner und Verlierer, wobei aber ein allgemeiner Reichtumszuwachs, wie er seit rund zwei Jahrzehnten in China auf breiter Basis im Gange ist, offensichtlich eine insgesamt sehr positive Bilanz zeitigt. Umso grösser müssen die lukrativen Aussichten sein, als es sich bei China um ein Land mit einer Milliardenbevölkerung handelt, wo schon geringe Prozentzahlen ins Tuch zu gehen pflegen. Die Uhrenindustrie und der Uhrenmarkt in China zeigen die Perspektiven, die ein wohlhabendes China für die Weltwirtschaft eröffnet, in exemplarischer Weise.

Hohe Wertschätzung
Chinesen sind, wenn es um Sachwerte und Statussymbole geht, ein konservatives Volk. Nicht von ungefähr weist China eine der höchsten Sparquoten der Welt auf. Nachdem unter Mao dem Volk eine ihm wesensfremde spartanische Besitzlosigkeit oktroyiert worden war, hat man seit den weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die im letzten Jahrhundert Ende der siebziger Jahre angestossen worden sind, die Lust am Besitz und Konsum entdeckt. Noch immer leben zwei Drittel der Menschen auf dem Land, und über weite Strecken ist China auch weiterhin ein Entwicklungsland. Auch in den Städten ist die Kaufkraft der grossen Massen noch weit vom Niveau entfernt, das etwa im europäischen Mittelmeerraum anzutreffen ist. Dennoch wächst die Mittelschicht, die sich immer mehr Dinge leisten kann, die nicht für den täglichen Bedarf gebraucht werden. Immer mehr Menschen werden zu Besitzern von Wohnungen, Autos und wertbeständigen Gütern. Nach verlässlichen Schätzungen dürften heute rund 20% der Chinesen im weiteren Sinne zur Mittelschicht zählen, was zahlenmässig rund 260 Mio. Menschen ausmacht. Das erklärte Ziel der chinesischen Regierung ist es, mittelfristig China zu einer «gemässigten Wohlstandsgesellschaft» zu machen.

All diese Entwicklungen sind von Relevanz für den chinesischen Uhrenmarkt. Eine Uhr gehört inzwischen nicht nur bei der städtischen, sondern auch bei grossen Teilen der ländlichen Bevölkerung zur Standardausstattung. Ein Gang durch die Shopping-Malls und Fussgängerzonen nicht nur in Schanghai oder Peking, sondern auch in zahlreichen Provinzstädten vermittelt einen Eindruck vom breiten Angebot an einheimischen wie internationalen Markenuhren. Unverkennbar ist auch der Trend weg vom rein funktionalen Zeitmesser zu einem Objekt, mit dem Status und Lebenseinstellung demonstriert werden sollen. Sportuhren zählen dazu ebenso wie Schmuckuhren, wobei die Edelmetall- oder gar Diamantenverzierungen durchaus nicht echt zu sein brauchen. Bereits in den vorrevolutionären Zeiten genossen die Schweizer Uhren, die sich bei den Höflingen und Mandarinen in der letzten Kaiserdynastie grosser Beliebtheit erfreut hatten, ein besonders hohes Prestige. Daran hat sich auch heute nichts geändert, wie nicht zuletzt die zahlreichen Geschäfte oder Warenhausstände, die stolz «Swiss Watches» oder «Watches of Switzerland» in ihren Auslagen präsentieren, beweisen. Die Uhr jedenfalls findet in einer Gesellschaft, die sich in so mancher Hinsicht von Grund auf verändert hat, weiterhin die traditionelle hohe Wertschätzung. - Im Rahmen der Bedingungen, die mit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) verbunden waren, hat sich Peking auch zur Senkung der Importzölle auf Uhren und Uhrenbestandteilen verpflichtet. Im laufenden Jahr sollen die Tarife auf 11% gesenkt werden. Vor vier Jahren hatten sie noch 23% betragen, und bis zum letzten Jahr waren sie auf 15% gesunken. 2005 soll auch das Lizenzsystem für Uhreneinfuhren fallen.

Millionenmarkt
Diese Erleichterungen eröffnen - zusammen mit einem anhaltend hohen Wirtschaftswachstum - günstige Perspektiven für die Uhrenexporte nach China. Die chinesische Tageszeitung «China Daily» zitiert Liu Yucheng, den Geschäftsführer der auf europäische Uhren spezialisierten Guangdong Eu-watch Investment and Management Co., mit der Aussage, dass China «jährlich bis zu 15 Mio. Uhren in den mittleren und höheren Preissegmenten» absorbieren könne. Obschon bekannte Namen wie Rolex und Omega schon seit langem auf dem chinesischen Markt eingeführt seien, sei das Potenzial auch für weitere Marken aus der Schweiz, Frankreich, Deutschland und Österreich enorm. Gemäss Liu sind Qualitätsuhren in den Preisklassen bis 5000 Yuan (rund 700 Fr.) am attraktivsten. Zu bedenken ist, dass in grossstädtischen Verhältnissen bereits ein Einkommen von monatlich 4000 Yuan zum mittelständischen Segment gezählt wird.

Guangdong Eu-watch hat vor, von Guangzhou, der Kapitale der reichen südchinesischen Provinz Guangdong, in eine Reihe weiterer chinesischer Grossstädte zu expandieren. Gemäss Presseberichten haben auch Omega und Casio vor, neue Filialen zu eröffnen. Insgesamt wird erwartet, dass die Marktdurchdringung ausländischer Marken, die bereits während der letzten drei Jahre um ein Drittel gewachsen ist, weiterhin kräftig zunehmen wird. Die chinesischen Marken können weder beim Prestige noch bei der Qualität, weder beim Stil noch bei der Entwicklung mit der ausländischen Konkurrenz Schritt halten. So sehr im Ausland das Label «made in China» in einem immer breiteren Segment von Konsumprodukten grosses Terrain gewonnen hat, so sehr gilt es auch zu berücksichtigen, dass in China selbst eine anspruchsvoller werdende Klientel Gefallen an Produkten aus Übersee findet.

Fokussierung auf das untere Preissegment
Schreitet man von den Qualitätsprodukten zum Volumen, so bietet sich ein anderes Bild. Gemäss chinesischen Statistiken hatte China 2003 an der gesamten Uhrenproduktion der Welt einen Anteil von nicht weniger als 80%, doch wurden damit bloss 10% der gesamten Erlöse der Uhrenindustrie erwirtschaftet. Auf dem chinesischen Markt wurden 7,5 Mio. Uhren zu einem Wert von 5,8 Mrd. Yuan abgesetzt. Dass wertmässig 80% dieses Umsatzes auf importierte Uhren entfielen, zeigt einmal mehr, wie stark die chinesischen Marken auf die untersten Preissegmente konzentriert sind. Unter den 20 umsatzstärksten Marken auf dem chinesischen Markt sind 5 einheimischer Provenienz. Die 1987 gegründete Shenzhen Fiyta Holding Co. ist der einzige an der Börse kotierte Uhrenhersteller. Dieser produziert auch die einzige Uhr, die das Label «China Famous Brand» trägt. Das Unternehmen arbeitet mit Schweizer Produktionsanlagen. Weitere landesweit bekannte Uhrenhersteller sind die Tianjin Seagull Watch Group und die Zhuhai Geli Rossini Clock Co. Marktbeobachter führen die magere chinesische Präsenz unter den führenden Marken auf die geringe Bekanntheit und das fehlende Prestige der chinesischen Produkte zurück. Die Öffnung Chinas gegenüber der Aussenwelt wie auch eine sich rasch entwickelnde Werbewirtschaft dürften dafür sorgen, dass sich dieses Gefälle zugunsten der international bekannten Brands in den kommenden Jahren noch zusätzlich verstärken wird.

Gemäss Angaben des chinesischen Verbandes für Uhrenproduzenten gibt es in China rund 2000 Unternehmen, die Uhren und Uhrenbestandteile herstellen. Die chinesische Uhrenindustrie konzentriert sich auf die Region von Shenzhen unweit von Hongkong. Dorthin waren bereits vor längerer Zeit nach der Etablierung einer wirtschaftlichen Sonderzone die ersten Produktionsverlagerungen aus der ehemaligen britischen Kolonie erfolgt. Mit insgesamt 200 000 Beschäftigten fällt die chinesische Uhrenindustrie über diesen regionalen Schwerpunkt hinaus jedoch kaum ins Gewicht. Die chinesischen Unternehmen produzieren schwergewichtig Uhren mit Einzelhandelspreisen von 80 bis 300 Yuan pro Stück und kontrollieren damit die billigsten Segmente des Binnenmarkts. Darüber hinaus geht ein bedeutender Teil der chinesischen Billigproduktion sowohl von Uhren als auch von Uhrenbestandteilen wie Gehäusen und Werken in den Export. Statistiken für 2003 und die erste Hälfte des letzten Jahres zeigen, dass die Ausfuhren wertmässig rund zweimal so hoch waren wie die Einfuhren, diese aber volumenmässig um ein Mehrfaches übertrafen. Wertmässig verzeichneten die Exporte wie die Importe in den letzten zwei Jahren jeweils zweistellige Zuwachsraten, eine Entwicklung, die nach Meinung von Experten auch in absehbarer Zukunft fortdauern dürfte.

quelle:
Neue Zürcher Zeitung
http://www.nzz.ch/2005/03/29/um/articleCKAJ6.html