Am Handgelenk herrscht Grössenwhn
Hi Leute,
nachfolgend ein Artikel aus der NZ-online vom 08.01.2009.
Nichts neues, aber trotzdem-fürchterlicher Trend: :rolleyes:
<<Mechanische Uhren expandieren
Am Handgelenk herrscht Größenwahn
In der Geschichte der Technik ist das ohne Beispiel: Da gibt es ein modernes Verfahren, das alles besser kann als das alte – und das dazu noch billiger ist. Und dennoch findet es im gehobenen Markt kaum noch Käufer. Die Rede ist von der Konkurrenz der elektronischen zur mechanischen Armbanduhr. Wer heute etwas auf sich hält, trägt Automatik oder Handaufzug – bevorzugt im «Jumbo-Format».
Im Uhrenland Schweiz zum Beispiel haben mechanische Modelle mit einem Umsatzanteil von rund 70 Prozent wieder die Oberhand. «Und die Schere öffnet sich weiter», sagt Jean-Daniel Pasche, Präsident des Verbandes der Schweizerischen Uhrenindustrie in Biel.
Die Sekunde soll nicht springen
Noch gibt es edle Quarzuhren. Aber sie verzichten immer häufiger auf den verräterischen Sekundenzeiger, der ordinär springt, während er bei der mechanischen Uhr geradezu majestätisch gleitet. Gern lehnen sich mechanische Uhren auch im Design an historische Vorbilder an. Doch eins ist neu: Begnügten sich zivile Herrenuhren früher mit Durchmessern von weniger als 35 Millimetern, sind Kolosse mit Maßen von mehr als 45 mm heute keine Seltenheit. Diesen Anspruch bekunden dann Namenszusätze wie «XXL» bei der Marke Omega, «Extreme» bei Jaeger-LeCoultre, «Maxi» bei Longines oder «Super» bei Breitling.
Mit der Mode haben sich auch die Sehgewohnheiten gewandelt: «Noch vor ein paar Jahren waren 38 mm eine normale Herrengröße», sagt Christina Golze vom Hersteller Chronoswiss in München. «Heute hören wir schon mal: Was soll ich denn mit dieser Damenuhr?» Solche Fragen sollen bei der neuesten Kreation des Hauses ausgeschlossen sein: Der «Wristmaster» vereint gleich zwei Gehäuse – eines davon mit Stoppuhr – auf einer 84 mal 42 mm großen Stahlplatte, die mit einer Ledermanschette im Stil altrömischer Gladiatoren um den Arm geschnallt wird.
Im Inneren tickt noch das alte Werk
Zwar rechtfertigen die Hersteller das Wachstum gern mit dem Platzbedarf für zusätzliche Funktionen. Doch im Inneren einfacherer Modelle ticken oft noch die gleichen schmalen Werke wie einst. Den Raum füllt vor allem ein eher untechnischer Werkstoff: Luft. Und so dient die Aufrüstung vor allem einem Zweck: das gestiegene Bedürfnis der Kunden nach Design und Repräsentation zu befriedigen. Denn wer sich eine mechanische Uhr leistet, will das gewürdigt wissen – auch wenn sich die Krone in den Handrücken bohrt.
Das in Sankt Gallen erscheinende «Tourbillon-Magazin» hat genau nachgemessen: Betrug die Größe aller von der Marke IWC aus Schaffhausen in der Schweiz angebotenen Uhren 1988 im Schnitt 34,6 mm, ist dieser Wert auf aktuell 43 mm gestiegen. Auf diesen Mittelwert kommt ziemlich exakt, wer ein neues Paketangebot von IWC annimmt: Fliegeruhren im Partnerlook für Vater und Sohn. Noch kühner als die 46,2 mm für das Herrenmodell mutet dabei die Empfehlung für den Filius an: 39 mm wären vor kurzem bei ganzen Kerlen als stattlich durchgegangen.
Dabei kann IWC immerhin beanspruchen, schon früher große Uhren gebaut zu haben: Um 1939 meldeten sich zwei portugiesische Kaufleute mit dem Wunsch, eine möglichst präzise Armbanduhr für die Schifffahrt produzieren zu lassen. Dies ließ sich nur durch den Einbau eines Taschenuhrwerks erfüllen. Geschaffen war die Portugieser-Uhr, die IWC aktuell in einer Vintage-Linie wiederaufleben lässt – natürlich mit nochmals vergrößertem Gehäuse.
Gestrandete Taucher-Uhren
Die meisten großen Armbanduhren haben einen militärischen Hintergrund. So berufen sich viele Hersteller auf entsprechende Modelle aus dem Zweiten Weltkrieg, als zweifelsfreie Orientierung zu Lande, zu Wasser und vor allem in der Luft eine Überlebensfrage war. Auch der Hersteller Panerai hat gute Beziehungen zur Armee: Die Modelle Radiomir und Luminor mit den Gardemaßen 44 bis 47 mm sind gestrandete Taucheruhren. Kürzlich wurde ein auf 40 mm abgespeckter Chronograph auf den Markt gebracht – «unser Damenmodell», sagt Sophie Binsch von Panerai in München scherzhaft. Ein voluminöser Kronenschutz verleiht dem Modell Luminor zusätzliche Wucht – ein Muster, das die junge britisch-schweizerische Marke Graham mit spinnenartig ausgreifenden Anbauten auf die Spitze treibt: «Unsere Kunden haben keine Lust auf Bescheidenheit», sagt Marketing-Direktor Max
Imgrüth.
Der Größenwahn zwingt auch konservative Hersteller zur Reaktion. Nomos aus Glashütte, auf puristisches Design spezialisiert, bietet das Einsteigermodell «Club» neuerdings zusätzlich zum Standard mit 36 mm auch in drei größeren Varianten mit bis zu 41,5 mm an. Lange & Söhne hat sein einst mit 38,5 mm Durchmesser gestartetes Modell «Lange 1» renoviert und als «Große Lange 1» auf 41,9 mm verbreitert.
Selbst Rolex gab sich lange Zeit zurückhaltend. Im Sortiment finden sich noch etliche Modelle, die unter 40 mm bleiben. Bei der «Day Date II» hat die Nobelmarke nun aber nachjustiert und den Durchmesser von 36 auf 41 mm gesteigert. Das wirkt derzeit fast wie ein Understatement – für Rolex-Träger ist das eine eher ungewohnte Erfahrung. Tobias Wiethoff, dpa
8.1.2009 >>