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Der Chronograph und die Gangreserve
Liebe Foristi,
neulich gab es im Hauptforum mal wieder eine Diskussion zum Thema Gangreserve, bei der auch kurz das Verhalten eines Chronographen angerissen wurde. Ich möchte dieses Thema hier mal etwas näher beleuchten.
Objekt der Untersuchung war mein alter Para-Chrono mit Landeron 248-Werk. Diese Wahl erfolgte aus Sicherheitsgründen, da ich meine 6265 nicht tagelang in der Wohnung rumliegen lassen wollte. Grundsätzlich verhält sich ein Rolex 727 oder 4130 aber genauso wie mein alter Traktor. Darauf werde ich später nochmal eingehen.
Anhang 218653
Die Werke
Anhang 218654
Anhang 218655
Der Energiespeicher – Zugfeder im Federhaus
Anhang 218656
Beginnen möchte ich mit ein paar Messergebnissen und 2 Rätseln.
Versuch 1: Ich habe die Uhr vollständig aufgezogen und ablaufen lassen (Chronograph nicht aktiviert). Sie blieb nach 42 h 24 min stehen.
Versuch 2: Ich habe die Uhr vollständig aufgezogen, dann den Chronographen gestartet und die Uhr ablaufen lassen. Sie blieb nach 29 h 50 min stehen.
Anhang 218657
Jetzt zu den Rätseln:
Versuch 3: Ich habe die Uhr vollständig aufgezogen, dann den Chronographen gestartet. Nach 24 h habe ich den Chronographen gestoppt und die Uhr ablaufen lassen.
Versuch 4: Ich habe die Uhr vollständig aufgezogen und laufen lassen. Nach 24 h habe ich den Chronographen gestartet und dann die Uhr ablaufen lassen.
Wann ist sie wohl bei den Versuchen 3 und 4 ungefähr (ein bisschen Toleranz gibts bei Gangreservemessungen ja immer) stehengeblieben?
Auflösung:
3) 42 h 17 min
4) 28 h 40 min
Wer das wusste, die technischen Hintergründe kennt und sich jetzt schon langweilt, darf ins Hauptforum wechseln und sich den dortigen Rendite-Threads widmen.
Was passiert nun in Versuch 1? In folgender Darstellung habe ich mal den Energiefluss im Werk bei nicht aktiviertem Chrono vereinfacht dargestellt.
Anhang 218658
Bei deaktiviertem Chronographen fließt die Energie (abgesehen von der Versorgung des Zeigerwerks und Reibungsverlusten) vollständig in die Hemmung und lässt die Unruh bei Vollaufzug mit 300 Grad Amplitude schwingen. Nach 24 Stunden hat sich die Zugfeder schon ein gutes Stück entspannt und speist entsprechend weniger Energie ins Räderwerk ein. Die Amplitude beträgt nur noch 235 Grad. Nach 42 h ist die Feder nur noch gering gespannt, die Amplitude auf 130 Grad gefallen. Jetzt kommt irgendwann der Punkt, an dem die Energie nicht mehr reicht um den Anker zu betätigen, die Uhr bleibt stehen.
Nun zu Versuch 2. Auch hier die Darstellung des Energieflusses, diesmal bei aktiviertem Chrono.
Anhang 218659
Bei eingekuppeltem Chronographen muss Energie aufgewendet werden, um das Chronozentrumsrad gegen den Widerstand der Friktionsfeder anzutreiben. Diese Energie fehlt jetzt auf dem „Energiepfad“ zur Hemmung, folglich sinkt die Amplitude (bei Vollaufzug auf 270 Grad). Das ist aber erst die halbe Wahrheit. Einmal pro Minute kommt der Schaltfinger des Chronozentrumsrads am Minutenzählmechanismus vorbei, muss dabei 2 Zahnräder drehen und den Widerstand der Minutenzählradsperrfeder überwinden. Das führt für die Dauer dieses Schaltvorgangs (der ca. 2 Sekunden dauert) zu einem weiteren Einbruch der Amplitude (den ich mit meiner Amateurzeitwaage aber leider nicht messen kann).
Hier zur Veranschaulichung ein Video dieses Schaltvorgangs (der Schaltfinger ist durch das runde Loch im Chronozentrumsrad zu sehen).
https://vimeo.com/350955184
Zurück zu Versuch 2: Nach 24 Stunden ist die Amplitude auf 195 Grad gesunken, nach 29 h auf nur noch 170 Grad. Jetzt kommt irgendwann der Moment, wo bei einem „kräftezehrenden“ Minutenzählvorgang die Energie, die in Richtung Hemmung fließt, nicht mehr für die Ankerbetätigung ausreicht, die Uhr bleibt stehen.
Ich hoffe, mit diesem Hintergrundwissen ist jetzt auch klar, was bei den Versuchen 3 und 4 passiert. Beim Versuch 3 läuft die Uhr die ersten 24 Stunden mit kleinerer Amplitude, nach dem Stoppen des Chronographen steigt die Amplitude wieder und die Uhr verhält sich im folgenden genauso wie in Versuch 1. Dass der Chrono die ersten 24 Stunden aktiviert war ist bzgl. Gangreserve egal, das weiß die Uhr ja nicht (an der Stelle kommt mir aus unerfindlichen Gründen der Name „Schrödinger“ in den Sinn, ich muss beim Öffnen der nächsten Uhr unbedingt darauf achten, ob da eine tote Katze drin rumliegt).
Beim Versuch 4 umgekehrt: Dass der Chrono die ersten 24 Stunden nicht gelaufen ist, ist bzgl. Gangreserve egal. Entscheidend ist, dass er läuft, wenn es in den Bereich der kritischen, niedrigen Energie geht.
Dieses Verhalten lässt sich auch an einem Rolex 4130 beobachten. Es spielt keine Rolle, ob der Chrono mit einer horizontalen oder einer vertikalen Kupplung ausgestattet ist, ein Chronographenmechanismus verbraucht in jedem Fall Energie, die dann an der Hemmung nicht mehr zur Verfügung steht. Wer das nicht glaubt, den überzeugen hoffentlich die Versuche, die der Großkapitalist und Mehrfach-Daytona-Besitzer AndreasL freundlicherweise für mich durchgeführt hat.
Gangreserve Chronos deaktiviert:
Daytona 1: 70 h
Daytona 2: 72 h
Gangreserve Chronos aktiviert:
Daytona 1: 66 h 20 min
Daytona 2: 19 h 13 min (Diese Messung hat Andreas 3x wiederholt mit gleichem Ergebnis - da ist offensichtlich was verschmutzt/verstellt/verschlissen)
Anhang 218660
Und auch hier kann man sehen, dass die Uhren stehen geblieben sind, als die Chrono-Zeiger auf ca. 58 Sekunden standen, also mitten im energiefressenden Minutenschaltvorgang (das 4130 hat zwar eine völlig andere Architektur, aber der Minutenzählmechanismus ist ähnlich aufgebaut).
An dieser Stelle nochmal herzlichen Dank für deine Unterstützung, Andreas. Forum + Munich Connection rockt! :gut::gut::gut:
Das alles ist meiner Meinung nach eine Betrachtung ohne große Praxisrelevanz. Wird das Landeron einmal am Tag aufgezogen, bleibt es auch bei aktiviertem Chrono nie stehen. Die Daytonas mit ihrer Automatik sowieso nicht (vorausgesetzt, man läßt sie regelmäßig revisionieren ;)).
Aber wie sieht es mit dem Gangverhalten aus? Die Auswirkung eines aktivierten/deaktivierten Chronographen auf den Gang hängt meiner Erfahrung nach von sehr vielen Faktoren ab (Qualität des Werks, Wartungszustand, Aufzugszustand, Größe und Lage des Schwerpunktfehlers, Trageverhalten, …) und lässt sich nicht allgemeingültig vorhersagen. Von minimaler Abweichung über deutlichen Nachgang bis zu deutlichem Vorgang hatte ich da schon alles dabei. Zur Veranschaulichung hier 2 einfache Beispiele.
Anhang 218661
Die Para läuft in der Lage „Zifferblatt oben“ mit +11 Sekunden/Tag. Schaltet man den Chrono ein, so ändert sich dieser Wert auf +15 Sekunden/Tag. In der Lage „Krone links“ (also der Kaffetrinker-Lage, so steht die Uhr, wenn man einen Becher Kaffee in der Hand hält) läuft die Uhr mit +1 Sekunde/Tag. Schaltet man den Chrono ein, so ändert sich dieser Wert auf -12 Sekunden/Tag (das ist wie gesagt nicht verallgemeinerbar, sondern dem individuellen Schwerpunktfehler dieser bestimmten Uhr geschuldet). Wenn nun jemand diese Uhr trägt und den größten Teil des Tages am Schreibtisch arbeitet, die Uhr sich also in der Lage „Zifferblatt oben“ befindet, wird er zu der Aussage kommen: „Mit aktiviertem Chrono läuft die Uhr ein bisschen schneller“. Wenn aber ich, der ich den größten Teil des Tages mit Kaffetrinken verbringe, diese Uhr trage, die Uhr sich also in der Lage „Krone links“ befindet, komme ich zu der Aussage: „Mit aktiviertem Chrono läuft die Uhr deutlich langsamer“.
Anhang 218662
Meine Daytona 6265 zeigt folgendes Verhalten: In der Lage „Zifferblatt oben“ läuft sie mit +11 Sekunden/Tag. Schaltet man den Chrono ein, so ändert sich dieser Wert auf +12 Sekunden/Tag. In der Lage „Krone links“ läuft die Uhr mit +7 Sekunden/Tag. Schaltet man den Chrono ein, so ändert sich dieser Wert auf +8 Sekunden/Tag. Abgesehen davon, dass sie generell ein bisschen zu schnell läuft also traumhafte Werte. Das Werk ist nunmal von deutlich höherer Qualität und offensichtlich sehr gut gewartet worden (Bucherer München 2012, als Herr M. noch Werkstattchef war). Bei dieser Uhr würden also sowohl Schreibtischtäter als auch Kaffeetrinker zu der Aussage kommen, dass das Zuschalten des Chronographen praktisch keine Auswirkung auf das Gangverhalten hat.
Danke fürs Reinschauen.
Gruß
Erik
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Zitat:
Zitat von
J.S.
:jump: Für SOWAS hier liebe ich dieses Forum, klasse!!!
Nochmal für mich zum Verständnis von Versuch Nr. 3: Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen verbrauchter Energie und Laufzeit, sondern aus dem Federhaus läuft (zumindest die ersten 2 Stunden) immer gleich viel Energie ab. Wie viel davon verbraucht wird, ist eine Frage des Widerstandes (wie viele Räder mitlaufen müssen). Erst zum Ende der Laufzeit sinkt die maximal verfügbare Energie, weshalb es zu einer Laufzeitverkürzung kommt. Es ist also für die Laufzeit erst dann (hier nach 24 Stunden) relevant, ob mehr oder weniger als die zur Verfügung stehende Energie verbraucht wird. Oder mit anderen Worten: Ob in den ersten 24 Stunden mehr oder weniger Energie verbraucht wird ändert (dank Hemmung?!) nichts am Output des Federhauses, weshalb der Energiespeicher (Laufzeit) auch nicht mehr oder weniger belastet wird.
Habe ich das richtig verstanden Erik? :dr:
Um ehrlich zu sein habe ich dich jetzt nicht verstanden. :D
Vielleicht hilft eine grafische Darstellung der Amplitude (vereinfacht, die wird in der Realität nie linear verlaufen).
Anhang 218690
Sinkt die Amplitude bis auf 130 Grad, bleibt die Uhr stehen. Die 4 Versuche sehen dann schematisch so aus.
Grz
Erik