Zitat:
Sprachgeschichten
der laue Abgang des scharfen S
In den gebrochenen oder gotischen Schriften verschmolzen das /∫/ (langes S) und das /z/ zum Schriftzeichen
ß, Eszett oder Scharf-s genannt. Lange Jahre war ß, die Frucht der Annäherung von ∫ und z, im
gesamten deutschsprachigen Raum zu Hause. Es wurden «Grüße» ausgerichtet, aber wenn man küsste, tat
man dies mit Doppel-s. Während es in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich nach wie vor ein
Bleiberecht hat, fand das Eszett in der Schweiz immer widrigere Bedingungen vor. Wie im Bundesblatt der
Schweizerischen Eidgenossenschaft ersichtlich wird, ist das Eszett seit 1906 auf dem Rückzug. Die Zürcher
Erziehungsdirektion entschied, dass das scharfe S ab dem 1. Januar 1938 in den kantonalen Volksschulen
nicht mehr zu lehren sei; andere Kantone folgten ihr. Als letzte schweizerische Tageszeitung verzichtete
die NZZ ab dem 4. November 1974 auf das Eszett. Was mögen die Gründe sein? Manche vermuten, die
Schreibmaschine habe in der Schweiz dem Eszett
den Garaus gemacht: Da mit der Schweizer Ein-
heitstastatur
auch französische und italienische
Texte geschrieben werden, belegten die französischen
Buchstaben mit Akzenten wie /é/ oder /à/
die Tasten; das Eszett und die grossen Umlaute (Ä,
Ö, Ü) mussten weichen. Andere vermuten gar, wegen
der andersartigen Phonologie des Deutschen in
der Schweiz sei das Eszett hier nie heimisch gewesen.